GH-Mochti

 

 





Domdekan
Prälat Prof. Dr. Otto Mochtit

 

Heilsame Zeit

Den Gang des Gewohnten zu unterbrechen, ist nicht nur hilfreich für die eigene Standortbestimmung; ja es ist geradezu heilsam, einmal auszusteigen aus dem Einerlei des Alltäglichen, dem Getrieben werden von außen, dem Stress der Anforderungen; den subtilen, aber spürbaren Zwängen eines bloßen Konsumentendaseins.

Es ist heilsam und manchmal notwendig, sich neben sein alltägliches Ich zu stellen und zu fragen: Bin ich das wirklich, was ich rede, was ich tue, was ich erleide, oder bin ich nur ein Spielball von Kräften, die mich manipulieren und mich wie eine Marionette von außen her steuern und fremdbestimmen?

Solche fragende Unterbrechung ist in der Tat heilsam. Sie hat auch ihren guten Platz in den 40 Tagen vor Ostern, die die Kirche eine „Zeit des Heiles“ nennt; eine gute Gelegenheit, die eigene Lebensbalance wieder zu finden; eine Zeit, die uns helfen kann, vielleicht wieder ein paar Schritte voranzukommen zum Ganz-Sein und Heil-Sein unseres Lebens. Wenn vom Heil des Menschen die Rede ist, d. h. wenn es um ein Gesund-Sein in einem umfassenden Sinne geht, dann wissen wir, dass es dabei um ein Ganz-Sein des Menschen in einem Geflecht von Beziehungen geht, in die er unausweichlich hineingestellt ist. Es geht dabei – ganz schlicht gesagt, um Lebensbereiche, in denen sich der Mensch als Mensch einfachhin vorfindet, ob er das will oder nicht. Wenn der Mensch sich einem dieser wesentlichen Lebensbereiche verschließt oder sogar bewusst davon distanziert, wird das einschneidende Auswirkungen für das Gelingen seines Lebens haben. – Daher ist es hilfreich, sich drei solche Lebensbereiche, drei grundlegende Beziehungen bewusst zu machen und mit Achtsamkeit diese Beziehungen zu pflegen; denn es geht in der Tat um nicht mehr und nicht weniger, als um das Ganz-Sein und Heil-Sein unseres Lebens.
Der Mensch ist Mensch und wird immer mehr Mensch, wenn er es begreift und es in die Tat umsetzt, dass nicht sein „für Sich-Sein“, seine Eigenständigkeit und vermeintliche Unabhängigkeit sein höchstes Gut ist, sondern die gelungene Verwirklichung der grundlegenden Beziehungen, in die er hineingestellt ist.

Zum einen ist der Mensch, also jede und jeder von uns, eingebunden in seine materielle Umwelt. Der Mensch ist Teil der natürlichen Schöpfung, und ist mit seinem leibhaftigen Dasein eingebunden in Gesetzmäßigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen irdischen Lebens. Für unser Gesund-Sein und Heil-Sein ist es daher nicht unerheblich, dass wir es lernen, auf die Stimme der Natur zu lauschen, auf die Signale des eigenen Körpers, aber auch die feine Verwobenheit unserer Sternexistenz in die Lebensvollzüge der uns umgebenden Lebewesen zu erkennen, sie zu achten und anzunehmen und zu respektieren. - Denn eine Zukunft gibt es für den Menschen nur, wenn auch die lebendigen Wesen um ihn eine Zukunftschance haben, d. h. nur dann, wenn wir die Gesetze der Natur anerkennen. Denn das persönliche, individuelle, das lokale Handeln hat – wie wir das angesichts eines bedrohlichen Klimawandels erkennen – hat globale, weltumspannende Auswirkungen und somit auf alles, was lebt und auf diesem „blauen Planeten“ zu Hause ist.

Somit ist es für die Erhaltung der Lebensgrundlagen nicht gleichgültig, welchen Fahrstil wir beispielsweise pflegen oder ob wir auch im Winter Erdbeeren und Weintrauben oder exotische Früchte haben müssen; und es ist nicht egal, dass manche Manager Zig-Millionen Euro pro Jahr verdienen und damit anderen Menschen die Güter rauben, die sie zum blanken Überleben bräuchten. – Es mag sich jede und jeder selbst überlegen, was es bedeutet, in einer guten Beziehung zur uns umgebenden Lebenswelt, d. h. in einem gerechten Verhältnis zur uns tragenden Schöpfung zu stehen.

Eine zweite, entscheidende qualitative Beziehung des Menschen ist sein Dasein als Person, begabt mit Vernunft und Freiheit. Im Licht seiner Vernunft ist ihm ein Strahl jenes Lichtes gegeben, das die Tiefen des Seins und des Lebens ausleuchtet. „In deinem Licht schauen wir das Licht“ (Ps 36,10). In seiner Vernunft ist der Mensch offen für die Erkenntnis der Wahrheit. Daraus erwächst ihm zugleich die Verantwortung, sich auch für die ganze Wahrheit zu öffnen und vor allem die Frage nach dem Sinn des Ganzen zu stellen. Denn ohne tragenden Sinn kann der Mensch nicht leben.

In diesem Lebensbereich, wo es für den Menschen um eine verbindliche Wahrheit geht, um eine das Gewissen zutiefst herausfordernde Orientierung, ist der Mensch heute am meisten gefährdet. Nicht wenige halten es so, dass sie wie mit einem Einkaufswagen durch den Supermarkt der Meinungen und Einstellungen fahren und in ihren Warenkorb das einsammeln, was ihrem Willkürwillen zu Gesicht steht. - Angesichts dieser Beliebigkeit kann es für uns nur heilsam sein, das Wort Gottes des Vaters nicht zu überhören, mit dem er Jesus Christus von oben bestätigt: „Dies ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören.“ Nur der Sohn Gottes kann das herausfordernde und zugleich helfende Wort von sich sagen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“

Und schließlich ist es dem Menschen aufgegeben, sein Leben zu entfalten in seiner sozialen, mitmenschlichen Bezogenheit. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, so hat Martin Buber die Bedeutung der menschlichen Beziehung ausgedrückt. Dass wir als Mensch Person sind, d. h. ein Wesen mit einer unantastbaren Würde und unaustauschbarem Wert, dessen können wir uns nur bewusst und gewiss werden, wenn uns diese Erfahrung in mitmenschlicher Begegnung vermittelt wird. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (Martin Buber). Sobald ich aber einem einzelnen Menschen durch Anerkennung, ja Liebe die Erfahrung menschlicher Würde ermögliche, bejahe ich diesen Wert für jeden Menschen und öffne meine Sicht auf das größere Wir der Gemeinschaft. So gehe ich hinein in den Raum sozialer und politischer Verantwortung, und weiß, was zu tun ist, wenn Menschen unter Hunger und Krankheit leiden, einsam und ausgegrenzt sind, oder Gewalt und Ungerechtigkeit ausgeliefert werden.

Es ist eine „heilsame Zeit“, wenn ich faste, um meinen Geist, mein Ich freier zu machen von materiellen Abhängigkeiten; wenn ich menschliche Not lindere und so Leben in Würde ermögliche; wenn ich im Gebet Gott suche, jenes größere Du, auf dessen Herz wir unsere Sehnsucht betten können.

Domdekan Prälat Prof. Dr. Otto Mochti

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