Von der Böhmerwaldschriftstellerin Rosa Tahedl hörte ich das Wort: „Die Heimat konnte man uns nehmen, nicht aber die Heimat in uns“. Geboren im Jahr 1945 in Hammern im Böhmerwald habe ich die Vertreibung und Flucht nicht bewusst miterlebt. Als Jüngster der Familie wurde ich in einem Rucksack heimlich über die Grenze von Böhmen nach Bayern gebracht, eingenäht in ein Schaffell und warm eingepackt, um nicht zu erfrieren bei der Flucht im kalten Februar 1946 über das Berggebiet des Ossers. Als kleiner Junge hörte ich in der Familie von den Eltern und den drei älteren Brüdern oft von der früheren Heimat, ohne sie zu kennen. Irgendwie wurde diese unbekannte Heimat zu einer „Heimat in mir“. Zumal in den ersten Jahren auch davon öfters die Rede war, wann wohl eine Rückkehr möglich sein könnte.

Zum ersten Mal sah ich dann mit 13 Jahren vom Ossergipfel hinunter nach Hammern. Der Geburtsort, die „Heimat in mir“ war nun nicht mehr nur etwas, das ich nur von alten Fotos und Gesprächen kannte. Ich konnte sie in Natur sehen, wenn auch nur einen Teil des Ortes und nicht das Geburtshaus, die Rödermühle. Der Wunsch kam in mir auf, auch sie zu sehen und dort den Fuß hinzusetzen, wo meine Wiege stand. Er blieb in mir lebendig wie ein glimmender Docht über viele Jahre hinweg. Einmal wollte ich wenigstens die Stätte meiner Geburt aufsuchen und den Weg nachgehen, auf dem ich bei der Flucht unter gefährlichen Umständen über die Grenze gebracht wurde. Wann dieser Wunsch in Erfüllung gehen könnte, davon hatte ich keine Vorstellung. Aber immerhin gab ich den Wunsch nicht auf.

Überraschend kündigte sich dann durch die sanfte Revolution in der damaligen Tschechoslowakei die Erfüllung meines lang gehegten Wunsches an. Plötzlich tat sich eine Tür auf, die so lange versperrt war. Man konnte zwar - wie ich 1973- in dieses Land mit Visum und unter Angst erregenden Grenzkontrollen einreisen. Doch die ganz nahe an der Grenze liegenden Gebiete, in denen auch die Rödermühle, mein Geburtshaus, lag, durfte man nicht betreten. Erst mit dem Ende des Kommunismus in Tschechien war der Zugang auch in die früher versperrten Grenzregionen frei. An Pfingsten 1990 fuhr ich dann voller Spannung nach Hammern. Zuerst drängte es mich, die Rödermühle, meine Geburtsstätte aufzusuchen und meinen schon lange währenden Wunsch zu erfüllen. Was fand ich vor? Vom Geburtshaus standen noch die Grundmauern. Die Mühle und das Gebäude der Zwirnspulenfabrik meiner Eltern waren noch vorhanden und Reste der landwirtschaftlichen Gebäude. Auf einer übriggebliebenen Mauer ließ ich mich nieder. Die mir erzählten Geschichten von früher und von der Flucht liefen wie in einem Film vor meinen Augen ab. Nach einer Stunde des denkwürdigen Verweilens bei der Rödermühle machte ich mich auf den Weg zur Kirche. Sie bot einen traurigen Anblick. Ein Verbotsschild wies darauf hin, dass die baufällige Ruine nicht betreten werden durfte. Vom Friedhof bei der Kirche war fast nichts zu sehen. Er war mit Bäumen überwachsen. Etwa 90 Prozent der Höfe der Kühnischen Freibauern und der anderen Häuser und Betriebe in Hammern waren verschwunden. Von Unkraut überwachsene Steinhaufen erinnerten noch an sie. Die in mehreren Jahrhunderten angelegten Wiesen und Felder hatte sich der Wald wieder zurückgeholt. Ein Teil des Ortes war in dem neu angelegten Stausee versunken. Und wie eine hässliche Wunde durchzog der noch sichtbare Sperrzaun die sonst großartige Landschaft.

Die veränderte politische Lage, der freie Zugang, der erste im Jahr 1990 vor der Kirchen-Ruine von Hammern gefeierte deutsch-tschechische Gottesdienst ließ die „Heimat in mir“ aufleben. Der glimmende Docht wurde entfacht. Interessierte Landsleute und Tschechen aus dem nun von Hammern zu Hamry gewordenen Geburtsort fanden sich zusammen zu einem deutsch-tschechischen Arbeitskreis zur Wiederherstellung der Kirche. Mit Begeisterung machte ich mit. In einer durch die neuen Verhältnisse verursachten Euphorie entstand die Vision von einem wieder würdigen Gotteshaus für die ehemaligen und heutigen Bewohner dieses Ortes. Mit viel Idealismus wurden Spenden gesammelt und mit dem Vorhaben begonnen. Aber bald zeigte sich, dass die äußeren Sperren zwar abgebaut waren, aber nicht zugleich die Mauern in den Köpfen. Unterschiedliche Vorstellungen von Zuständigkeit, Planung und Durchführung des Projekts, gegensätzliche Denkweisen über die Gestaltung der Kirche prallten aufeinander, ganz zu schweigen von praktischen Schwierigkeiten wie Beschaffung eines oft nicht vorhandenen guten Baumaterials oder von einer verlässlichen Kalkulation der Kosten. Das gemeinsame Ziel vor Augen fanden sich jedoch immer wieder Lösungen für die entstandenen Probleme. Viel Überzeugungsarbeit und beharrliche Verhandlungen waren dazu nötig. Gegner einer Wiederherstellung der Kirche durch den deutsch-tschechischen Arbeitskreis gab es auch, auf beiden Seiten. Unter Tschechen hieß es: „Jetzt bauen die Deutschen zuerst die Kirche und dann wollen sie wieder zurückkommen.“ Unter den ehemaligen Hammerern schimpften manche: „Zuerst zerstören die Tschechen die Kirche, und dann sollen wir, die Vertriebenen, sie auch noch wieder für sie aufbauen. Nein, danke!“

Die dennoch nicht durch solche Widerstände und Schwierigkeiten aufzuhaltende Wiederherstellung der Kirche führte nebenbei zu einem Lernprozess. Wir Deutschen mussten erkennen: Die Tschechen litten darunter, dass es uns, den Heimatvertriebenen, mit unserem Geld plötzlich möglich war, die Art und Weise der Wiederherstellung der Kirche zu bestimmen, obwohl wir doch in ihren Augen froh sein müssten, überhaupt wieder in der einstigen Heimat etwas unternehmen zu können. Die Angst vor einer neuen Germanisierung – wenn auch nicht ausgesprochen vor uns – war zu spüren. Auch die deutsche Seele tat sich schwer, bei dem vielen Geld, das von ihrer Seite floss, die tschechische Einstellung zu akzeptieren, dass sie die eigentlichen Bauherren waren und das Sagen hatten, aber ohne Geld. Trotz solcher Hindernisse sind durch das gemeinsame Werk des Wiederaufbaus der Kirche im Laufe der Jahre gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Wertschätzung gewachsen. Die einstigen Bewohner von Hammern und die derzeitigen Bewohner von Hamry verbindet das gemeinsame Interesse an diesem Ort, seiner Geschichte und die Liebe zu seiner schönen Lage im Böhmerwald. Wenn ein Heimattreffen stattfindet oder ein Fest gefeiert wird, ist es selbstverständliche Praxis geworden, dass gegenseitig eingeladen wird. Wenn ein größeres Projekt ansteht, wie die Errichtung eines Denkmals oder die Wiederbenützung des Friedhofs, dann wird vom Bürgermeister informiert und gemeinsam die Verwirklichung des Projekts mit dem Vorstand des Vereins „Kühnische Gemeinde Hammern“ überlegt.

Die gemeinsame Wiederherstellung der Kirche bewirkte eine mittlerweile auch von den Tschechen erkannte und anerkannte Belebung des Ortes. Schließlich wurden um die neue Kirche ein Hotel, eine Gaststätte und eine Pension errichtet. Zudem ist die bei der Wiederherstellung der Kirche mit enthaltene Intention der Versöhnung zwischen den ehemaligen Deutschen und den Tschechen, die jetzt dort wohnen, ein gutes Stück gelungen. Glaube und Heimat haben sich auch hier als segensreiche Kombination bewährt. Eine gute Grundlage für die Heilung alter Wunden durch die Vertreibung aus der Heimat bietet gerade der christliche Glaube. Seine Botschaft, dass wir von Gott her Brüder und Schwestern sind, versöhnt und führt Menschen trotz aller unterschiedlicher Nationalität und belasteter Vergangenheit neu zusammen. Gemeinsamer Glaube und gemeinsame Heimat sind eine Kraftquelle. Das war auch die Erfahrung des deutsch-tschechischen Arbeitskreises bei der Wiederherstellung der Kirche in Hammern. Wie bei diesem Beispiel gilt auch für das neu entstehende Haus Europa die Erkenntnis des Psalmisten: „Wenn nicht der Herr das Haus baut, müht sich jeder umsonst, der daran baut“ (Ps 127,1). Nicht alle seelischen Wunden einer unseligen Vergangenheit zwischen Tschechen und Sudetendeutschen sind schon verheilt. Dennoch muss an der Brücke der Versöhnung weiter gebaut werden. Die Erlebnisgeneration der Vertriebenen mag sich da manchmal schwer tun. Doch die nachfolgenden Generationen - nicht mehr belastet sind durch schlimme Erfahrungen aus der Vergangenheit - sollten die Chance nützen in Erinnerung an die Wurzeln, aus denen sie kommen, im neuen Haus Europa die Brücke der Versöhnung zwischen Tschechen und Sudetendeutschen zu vollenden.


Ihr
Domkapitular Alois Ehrl

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